Alle Bilder (c) Detlev Schneider;
REVUE - Prinzessin aus der Besenkammer
Darf man ein Kind an die Medien „verkaufen“? Wird Anna Ermakowa ausgebeutet? Und wenn ja, von wem? Der Mutter oder den Medien? Wie kommt das Kind mit dieser Belastung zurecht? Wird das Kind einen Schaden davon tragen? Oder ist das Mädel jetzt schon eine verzogene Göre?Viele Fragen, heiße Diskussionen und exakte Auflistungen der Honorare - das kann man derzeit überall nachlesen: die Marketing-Story eines siebenjährigen Mädchens.


Ich aber mag kein Schubladendenken und keine Pauschalurteile und versuche mich eher in andere Menschen hineinzuversetzen, die eigentlichen Beweggründe zu recherchieren und nachzuvollziehen. Vermutlich kommen da meine Schauspieler-Gene zum Vorschein... Außerdem macht es Spaß und erklärt viel, denn: auf den Blickwinkel kommt es an. Wollen Sie mitmachen?

Dann stellen Sie sich Folgendes vor: Wir schreiben das Jahr 1999 und Sie sind ein relativ unbekanntes Fotomodel aus Russland, einem Land, das sich massiv im Umbruch befindet und nicht gerade mit westlichem Wohlstand gesegnet ist. Sie aber haben es immerhin bis ins Londoner Restaurant Nobu im luxuriösen Metropolitan Hotel geschafft und ausgerechnet hier läuft Ihnen Boris Becker über den Weg. Und, wie das Leben so spielt, Sie treffen Ihn ein paar Monate später zufällig wieder am gleichen Ort. Boris fragt Sie (endlich?) nach ihrer Telefonnummer und Sie verabreden sich (endlich?) mit ihm für den 30. Juni (Nur am Rande: das ist mein Geburtstag!).
Dieser Tag hat es in sich! Erst erklärt Boris am Nachmittag in Wimbledon seinen Rücktritt vom Tennissport, dann wird seine Ehefrau, Barbara Becker, mit Frühwehen in eine Londoner Klinik eingeliefert, und am Abend sind Sie mit Ihrem Date an der Reihe! Der berühmte Boris begehrt Sie und buhlt um Ihre Gunst. Und so endet Ihr Abend in der Besenkammer des Metropolitan Hotels: Bei diesem leidenschaftlichen One-Night-Stand wird eine kleine Tochter gezeugt.
Das war’s, danach hören Sie nichts mehr von ihm. Erst im Februar 2000, Sie sind schon im 8. Monat, unterrichten Sie den Ex-Tennisprofi per Fax von Ihrer Schwangerschaft. Der Fast-Food-Lover will aber davon nichts wissen, und Sie, mittlerweile alleinerziehende Mutter, reichen 2001 die Vaterschaftsklage ein. Boris muss einen Vaterschaftstest machen und erklärt im Anschluss: "Ich bekenne mich zu dieser Vaterschaft. Ich übernehme die Verantwortung und werde für die kleine Anna sorgen." Gut, fehlt nur noch der Unterhalt für das Kind, den Ihnen das Familiengericht mit monatlich 5000 Euro zuspricht.
 
Gratulation, Sie haben sich durchgesetzt! Sie haben als Mutter um die Rechte Ihrer Tochter gekämpft und Sie haben gewonnen! Auch Dank des immer größer werdenden Drucks der Öffentlichkeit, denn in den Medien wurde alles über Sie und Ihre heiße Affäre peinlich genau beschrieben. Sie mussten viel einstecken, wurden von den Paparazzis gejagt, aber der Kampf hat sich gelohnt. Sogar die Natur zeigte Gerechtigkeit und ließ Daddy’s Gene sich durchsetzen, denn das Mädel sieht dem Vater mehr als ähnlich - wie aus dem Gesicht geschnitten.

„Alles wird gut.“ Schon wieder sitzt eine glückliche Patchwork-Familie mit Papa Boris vereint unter dem Weihnachtsbaum und haben sich alle so lieb. Amen.

Das Fazit der eben zu Ende gedachten Vorstellung: Wird hier ein Kind an die Medien „verkauft“? Nein, so ist es nicht ganz, hier ist eher das Privatleben die Karriere: wenn sowieso alles bis ins kleinste Detail, sozusagen bis auf die Unterhose, an die Öffentlichkeit dringt, ist es doch nur legitim, gleich mit den Medien zusammenzuarbeiten und davon zu leben.
So wie die ganze Familie: Papa Boris, Stiefmutter Barbara...
Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Und sämtlichen Becker- Mädels muss man eines lassen: sie machen das Beste daraus!

Ausgebeutet von der Mutter oder den Medien? Weder noch: Die Mutter hatte den Traum, ein berühmtes Model zu sein und nun ist die Tochter auf dem Weg, eins zu werden. Auch eine Form von „Kinderarbeit“.
Die Medien berichten gern über die „Prinzessin aus der Besenkammer“ - fast wie im Märchen und ein Traum für die Leserschaft.
Und die seelische Belastung? Es ist so oder so nicht einfach, Tochter berühmter Eltern zu sein, egal ob man sich nun der Öffentlichkeit präsentiert oder sich davor versteckt. Aber man gewöhnt sich dran. Und je früher man damit umzugehen lernt, umso besser. Eine verzogene Göre? Keine Ahnung, die Klasse eines Boris Becker ist nicht meine Größenordnung.
Aber bei einer Umfrage, was der Begriff „Armut“ für sie bedeute, gaben 70 Prozent der Jugendlichen an erster Stelle an: kein Handy zu haben! Das stimmt nachdenklich.
Die Moral von der Geschicht’?
Leben und leben lassen.
Oder wir befolgen Beckers Kondom-Empfehlung: „Ich weiß, warum.“


© Marie Theres Kroetz Relin
erschienen in REVUE Heft 05 am 01.02.07
 
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