Alle Bilder (c) Detlev Schneider;
Aktuelle- 80. Jahre jung und den Schel(l)m im Nacken

Einen Tag vor seinem 80. Geburtstag erhalte ich eine Rundmail von meinem Onkel: „Liebe Freunde und Verwandte, dies ist eine Testsendung. Bitte antwortet, ob erhalten. Vielen Dank. Freue mich auf Euch alle! Euer noch 79-jähriger Carl.“ Ich muss schmunzeln, dieser Mann ist einfach unglaublich!

Ein Multitalent, das fünf Sprachen spricht! Sein Leben lang Schauspieler - einmal Hollywood und zurück. Ein atemberaubender Verwandlungskünstler auf der Bühne, ein unverbesserlicher Abenteurer, ein Palmen-Experte mit grünem Daumen, Charmeur ohne Grenzen, mittlerweile treuer Ehemann, Vater von 6 Kindern und 5 Enkelkindern, kurz: ein Lebenskünstler, der unerschrocken Neuanfänge wagt und selbst auf seine „alten“ Tage, nicht die Irrwege des „www“ scheut (so manch ein Jüngerer hat damit seine Probleme), sondern stetig weiter lernt. Und immer den Schelm im Nacken, im Auge und im Herzen.
Am Wochenende traf sich die gesamte Familie in Zürich, um meinen Onkel Carl Schell zwei Tage lang ausgiebig zufeiern. „Es ist schön, seine eigene Trauerfeier mitzuerleben und all die Menschen, die man liebt, versammelt zu sehen. Das sollten wir zur Mode machen!“ begrüßt Carl die anwesenden Gäste. Und da ist er wieder, der Schelm, der wie ein kleiner Teufel in seinen Augen springt. Alle lachen und es wird ein Fest des Lebens: Stella, seine Frau legt einen Rock’n Roll aufs Parkett, Marco, sein Sohn, spielt am Klavier, Malin, seine Enkeltochter singt und ich denke mir: verdammt, was für eine begabte Familie! In einer ruhigen Minute setze ich mich zu Carl und frage ihn ganz leise: „Was bedeutet das Alter für Dich?“ - „Das ist mir ein wichtiges Thema, weil ich jetzt das Alter Deiner Mutter habe und mir Gedanken mache, was kommt. Es ist noch nie jemand zurückgekommen von der anderen Welt. Jetzt bin ich 80 und ich wenn ich Glück habe, kann ich vielleicht noch 10-15 Jahre leben, aber ich weiß, es geht dem Ende entgegen. Und da mach ich mir Gedanken, zum Beispiel darüber, was ich alles falsch gemacht habe, in meiner Kindheit, die Spannungen mit meinem Vater, der Flucht nach vorne, also meinem frühen Auswandern über Paris nach Brasilien.“ - „Aber Du blickst doch auf ein erfülltes Leben zurück?“ - „Weißt Du, in meinem Alter hat man einfach Angst vorm Sterben. Man schläft immer wieder ein, wacht immer wieder auf, aber irgendwann eben nicht mehr. Je länger ich lebe wird mir die ungeheure Verantwortung die man im Leben gehabt hat bewusst. Mein Lebensziel ist es, ein nützliches Glied der menschlichen Gemeinschaft zu sein. Und meinen Platz in der Schöpfung voll und ganz auszufüllen. Ob ich das geschafft habe, ist eine große Frage. Die Schauspielerei ist eine schöne Leistung auf unserem kleinen Planeten, aber es ist nicht genug. Und deshalb gehe ich mit gemischten Gefühlen in die Ewigkeit, weil ich denke, ich habe zu wenig positiv Nützliches gemacht.“ - „Bist Du gläubig?“ - „Ja und die Religion ist für alte Menschen unsagbar wichtig, denn sie gehen ja bald und sie möchten wissen, wohin sie gehen und was sie tun. Von all den mir bekannten Religionen ist mir die Christliche am sympathischsten und zwar aus einem ganz einfachen Grund: dieser Gott hat gelitten. Ein leidender Gott ist uns Menschen näher, denn die Hälfte der Menschheit leidet dauernd. Dass dieser allmächtige Gott herunterkam, um hier auf Erden wie ein Mensch zu leben, zu leiden und zu sterben, empfinde ich das Göttlichste am Nahsten. Und es gibt mir die Gewissheit, dass kein Stäubchen verloren geht.“ Ich bin nachdenklich, verstehe nur zu gut, was er mir vermitteln will. „Und was hältst Du davon, wenn wir jetzt anstatt zu leiden, einfach tanzen gehen?“ - „Eine gute Idee!“ lächelt er mit seinem unverwüstlichen Charme.
Am Tag zwei unseres 1. Familienkongress in Zürich ist es Maximilian, der eine ergreifende Rede für seinen Bruder hält. „In Italien, wenn ein großer Schauspieler stirbt, ist es Tradition, dass man ihm bei der Beerdigung einen letzten großen Applaus spendiert. Es ist einfach wunderbar, dass die Familie sich nicht aus einem traurigen Anlass trifft, sondern dass wir heute hier uns alle lebend feiern! Familie ist das Wichtigste, was wir haben.“ Applaus, Standing Ovation. Alle sind gerührt. Und Carl stupst mich an und sagt: „Du, ich glaub ich hab meine Trauerrede doch einen Tag zu früh gehalten!“
Eine herrlich verrückte Familie!

© M.Th. Kroetz Relin 2007- erschienen in "Die Aktuelle"   Heft 47
 
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