Alle Bilder (c) Detlev Schneider;
Marie Theres Kroetz Relin - Flucht ins Ich

Sie hatte sich von dieser Reise viel erhofft. Urlaubstage sind wie Memo- Zettel im Hirn, kleine, gelbe Lichtblicke um die Monotonie des Alltags zu durchbrechen, Nahrung für die kalten Tage in den eigenen vier Wänden.
Amelie stand an den Klippen und schaute aufs Meer. Das Meer. Ihr Meer...
„Merkwürdig,“ dachte sie „ dieses tiefe Ziehen in mir. Es drängt mich und es tut so weh...“ Sie atmete tief ein und ihr Blick verlor sich am Horizont.
Amelie war eine schöne Frau, Mitte dreißig, hatte vier Kinder, einen liebevollen, wenn auch nicht einfachen Mann, ein kleines Häuschen und dazu ein ganz normales Leben. Sie funktionierte wie eine alte Taschenuhr, mit einem gemütlichen „Tick, Tack" in den Stunden ihres Alltags. Fernweh hatte sie oft, gepaart mit Hoffnung auf Veränderung. Aber Urlaub am Meer konnten sie sich nur alle paar Jahre leisten, das nackte Leben war einfach zu teuer.
„Diese Sehnsucht in mir...Warum? Warum holt mich die Unzufriedenheit ein? Warum hab ich sie nicht Zuhause gelassen? Ich wollte doch durchatmen...“ dachte sie verzweifelt.
Amelie hatte letzte Nacht nicht gut geschlafen. Gedanken bohrten sich wie Würmer durch ihr Gehirn. Leise stand sie auf, schenkte jedem ihrer Kinder einen Blick und schlich in die Küche. Sorgfältig machte sie sich Kaffee. So wie immer. Der Kaffeeduft gab ihr das Gefühl von Zuhause. Einem Zuhause, in dem sie nicht mehr leben wollte. Schlückchenweise trank sie. Sie seufzte und betrachtete ihre müden Hände. Amelie begann ganz langsam ihre Ringe abzustreifen, so als würde sie versuchen gleichzeitig ihre Routine abzulegen. Aber sauber, genau so wie alles was sie tat. Die ungewohnte Stille ließ sie um 5 Uhr früh das Haus verlassen. Sie liebte die leicht feuchte sommerliche Morgenluft, verstärkt durch den rauen Salzgeschmack des Meeres.
„Eigentlich geht´s mir doch gut, ich hab doch alles, gesunde Kinder, einen Mann, ein normales Leben!“ Amelie machte eine Pause. „Ein normales Leben. Das ist es...“
Sie schaute auf den Abgrund und die weiße Gischt, die sich wie frischer Schnee über das Meer legte.
„Ich trage so eine tiefe Sehnsucht in mir. Und ich weiß, dass es ungerecht ist. Ich darf so nicht denken. Aber ich kann nicht anders. Es zieht mich. Ich sehne mich nach einer Umarmung. Einer Umarmung meiner Seele...“ Eine Träne lief über Amelies Wange.
„Frei sein. Die Arme ausbreiten und fliegen, bis zum Horizont schwimmen, immer weiter...“
Ihr wurde leicht schwindlig. Die Höhe und das Meer hatten sie in gefangen und ihre Gedanken wurden zum Sog.
„Selbst nach der Umarmung des Todes sehne ich mich. Aber ich hätte nie den Mut. Wann hatte ich schon mal den Mut zu tun was ICH will?“
Ihr war kalt, die Gefühle fuhren Achterbahn und die Tränen passten sich den Wogen an.
„Nie habe ich mich getraut zu meinen Gefühlen zu stehen, meine Bedürfnisse zu leben... Ich funktioniere. Aber lebe ich? Zu feig zu leben und zu sterben!“

Trotz der Aufgewühltheit machte sich Ruhe in Amelie breit.
„Nicht mal meine Haare lasse ich mir schneiden, geschweige denn färben! Warum? Weil es den anderen so gefällt?? Ja. Deshalb. Und ich? Warum lasse ich keine Veränderung an mir -  in mir zu? Um ja nicht die Gewohnheit aus dem Trott zu bringen??“
Sie war sich nah. Sie war bereit. Amelie breitete ihre Arme aus.
 „Ich will mein Ich spüren! Ich will die Flucht ins Ich!“
Sie schloss die Augen und begann sich leicht zu fühlen.

„Mama?!“
Amelie erschrak, in ihrem Körper stellten sich Gedanken, Gefühle, Innereien in Reih und Glied auf, so als müssten sie zum Appell  antreten.
„Was machst Du denn da? Du hast ja geweint... Alles o.k.?“ fragte ihre Tochter. „Ja. ... Ja.“ antwortete Amelie verwirrt „ Alles o.k. Ich hab nur die Schönheit des Meeres genossen.“
Sie lächelte und bemerkte, dass dieses verdammte „Tick, Tack“ in ihr wieder begann, so als ob ihre innere Taschenuhr neu aufgezogen würde und die Gewohnheit sich durch die Hintertür wieder einschleichen wollte.
„Ich war mir doch gerade so nahe“ wirbelte es in Amelies Gedanken, während sie sich umdrehte, um ihre Tochter in die Arme zunehmen.
„Hey Mama, da geht es ja verdammt tief runter... Hast Du keine Angst?“ fragte ihre große Tochter.
 „Nein,“ sagte Amelie leise „Nein, überhaupt nicht.“ und dachte „Ich wollte die Flucht ins Ich. Ich wollte eine Veränderung. Und wieder einmal fehlt mir der Mut...“ Sie machte eine Pause und schaute ihre Tochter an.
 „Weißt Du was?“ begann sie und brach gleich wieder ab. Es fehlte noch ein kleines Stückchen, es auszusprechen... sie kämpfte mit sich.
„Was denn, Mama?“ die Tochter wartete auf eine Antwort.
„Schlafen die anderen noch?“ fragte Amelie vorsichtig.
 „Ja, tief und fest.“ lachte das Mädchen.
„Dann fahren wir zwei in den kleinen Ort und gehen Frühstücken. Und danach lass ich mir Ohrringe stechen...“ sagte Amelie schnell.
 „Mama, du wolltest dir doch nie  im Leben Ohrringe stechen lassen!“
Amelie fühlte sich ertappt.
„Aber ich fände es klasse! Die stehen dir bestimmt total gut. Und außerdem könnten wir dann tauschen...“
„...und anschließend gehen wir zum Friseur!“ unterbrach Amelie ihre Tochter und Erleichterung machte sich in ihr breit.
 „So kenn´ ich Dich ja gar nicht, Mama! Dann lass uns los fahren, bevor Du es Dir noch mal anders überlegst. Komm!“
Sie nahm ihre Mutter bei der Hand.
Amelie wusste, auch wenn es nur eine kleine Veränderung in ihrem Leben sein sollte, dass dies ein Anfang war. Ihr Anfang.
Die Flucht ins Ich war gelungen. Auch wenn vor ihr noch ein weiter Weg lag... Aufbruch Reise.


© Marie Theres Kroetz Relin 2004 - Auszug aus "If pigs could fly - Die Hausfrauenrevolution" Piper Verlag


 
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