PNP – Petra Grond – Das alltägliche Mosaik des Missbrauchs

Das alltägliche Mosaik des Missbrauchs

„Szenen (k)einer Ehe“ von Relin und Kroetz erzählt mehr als von sexuellen Übergriffen

 

„Ich fordere die Freiheit mit Gebrüll“, zitiert Marie Theres Relin die Bildhauerin Camille Claudel (1864-1943). Nun hat auch sie ihre Anliegen wenn auch nicht mit Gebrüll, so aber doch unüberhörbar vorgebracht. Geht man nach der öffentlichen Reaktion, gleicht das Buch „Szenen (k)einer Ehe“, das die 57-Jährige mit ihrem geschiedenen Mann, dem Dramatiker Franz Xaver Kroetz (77), geschrieben hat, einer Handgranate, verpackt in viel Seidenpapier: Fast am Ende eines unterhaltsamen Reiseberichts aus zwei sehr unterschiedlichen und doch eng aufeinander bezogenen Perspektiven, bei dem es auch um die Zumutungen des Anderen und des Alterns geht, schildert Relin, wie sie als 14-Jährige von ihrem Onkel, dem 2014 gestorbenen Maximilian Schell, entjungfert wurde, „ohne Gewalt, aber gegen meinen Willen“.

Die Entzauberung des charismatischen Oscar-Preisträgers geschieht nicht aus heiterem Himmel. Betreten stellt man bei genauerer Lektüre fest, dass sich Andeutungen des Missbrauchs, seiner Auswirkungen und der Unfähigkeit, darüber zu sprechen, quasi von der ersten Seite durch das Buch ziehen. Schon in ihrer 2011 erschienenen Familiengeschichte „Meine Schells“ hatte Marie Theres Relin ähnliche Hilfesignale ausgesandt – gehört hat sie damals offenbar niemand. Diesmal nun hat auch Schells Tochter Nastassja (34) ihr Schweigen gebrochen und die übergriffige Natur ihres Vaters bestätigt. Die Familie wusste von seiner fatalen Neigung zu sehr jungen Mädchen („Bambis“), aber sie schwieg. Womöglich beförderte die im Nachkriegsdeutschland als „Seelchen“ gefeierte Schauspielerin Maria Schell (gestorben 2005) das Treiben des geliebten und bewunderten Bruders sogar, indem sie ihn zur badenden Tochter schickte – so wie sie schon die dreijährige Marie Theres animierte, dem Vater, Regisseur Veit Relin (gestorben 2013), nackt Modell zu stehen.

Dass manch einer die späte Aufdeckung nun als „PR-Masche“ für die „Szenen (k)einer Ehe“ diskreditieren will, ist niederträchtig, respektlos – und ignorant. Ist es doch erwiesen, dass das Reden über Missbrauch häufig erst nach vielen Jahren möglich ist. Nicht ohne Grund kann ein solches Delikt mittlerweile bis zu 30 Jahren später angezeigt werden.

„Ich verteufele niemanden, auch nicht meine Mutter“, sagt Marie Theres Relin im Gespräch mit unserer Zeitung. „Das war eine andere Zeit. Und die Männerhörigkeit meiner Mutter und ihre Co-Abhängigkeit resultierten wiederum aus ihrer Kindheit.“ Ebenso wie für Schell sowie für die Tochter nur ein „Genie“ als Partner infrage kam. Dass Maria Schell gern verkündete: „Wenn’s an zweiten Kroetz gäbe, tät ich ihn heiraten“, findet die Tochter allerdings bis heute nicht lustig.

„Find ich schon gut“, lacht der neben ihr sitzende „Ex“, mit dem sie 14 Jahre, bis 2006, verheiratet war. Um sofort ernst nachzusetzen: „Wenn man Vertrauen, Respekt, Angst in einer Familie ausnutzt, ist das Machtmissbrauch.“ Nicht einmal ihm, mit dem sie drei Kinder hat, die ihren Lebenssinn alle außerhalb jeglicher Glamourwelt gefunden haben, hatte Marie Theres Relin ihre Geschichte erzählen können. Kroetz erfuhr erst jetzt aus dem Manuskript davon – nachdem die Texte bereits beim Verlag eingereicht waren. Denn beide Autoren hatten vereinbart, dass jeder jeden Tag eine Seite schreibt – ohne dass der andere sie zu lesen bekäme. „Ich schreibe jeden Tag, seit 60 Jahren. Ich hab‘ kein Bedürfnis gehabt für ein Buch zu schreiben, sie offensichtlich schon. Also hab‘ ich gedacht: Warum eigentlich nicht? Prämisse: Jeder schreibt, was und wie er mag, ohne inhaltlichen Zwang.“

Dem Autor und Theatermann, seit den 1970ern als „Anwalt der Sprachlosen“ und visionärer Dramatiker gefeiert und spätestens seit seinem Auftritt als Baby Schimmerlos in der TV-Serie „Kir Royal“ auch beim breiten Publikum populär, kam diese Abmachung entgegen. Seit Jahren kämpft – und kokettiert – Kroetz mit seinem „writer’s block“, der Schreibblockade. „Mein Universum ist längst geschlossen, aber ich komm nicht mehr rein“, beklagt er das in Bremen, wo das Paar, das kein Paar mehr ist, seinen einzigen gemeinsamen Fernsehauftritt in der Talkrunde „3 nach 9“ hat. Zudem stand doch sowieso fest: Was er schreibt, ist Literatur, was sie schreibt, „sind die Worte eines Nichts“, so heißt es im Buch. Was er dann aber bei „der Ex“ über ihre Geschichte las, hat ihn „stumm gemacht“. Umso beredter lobt er nun ihr Talent: „Sie hat Mut, sie kann schreiben, da stimmt die Sprache, das Narrativ ist konsequent durchgehalten.“

Das Narrativ. Darum geht es beiden. „Schreiben ist ein dramatischer Vorgang“, erklärt Kroetz. Deshalb musste auch die neuneinhalb Wochen dauernde Geschichte der „Heimholung“ seines alten Mercedes 190 E vom früheren Familienwohnort Teneriffa nach München „gestaltet“ werden. „Also hab‘ ich die Geschichte von einem alten Mann erzählt, der nicht loskommt von seiner Ex-Frau und sie deshalb ständig schlecht machen muss.“ Das ist allerdings gelungen. „Natürlich“ sei der Text reine „Autofiktion“. Und ihr Antrieb? „Ich hatte das Gefühl: Dem Kroetz muss ich’s zeigen. Mir ging es um die vielen Missstände und Formen von Missbrauch, denen Frauen, und auch ich, ausgesetzt sind: Existenzängste, Altersarmut, das Ausgeliefertsein den Machtspielen und schlechten Manieren von Arbeitgebern. Wie zwar viel Geld da ist für eine Flüchtlings-Gala, aber nur wenig dafür, geflohenen Frauen und ihren Kindern einen Kino-Nachmittag zu schenken. Und ich wollte die Geschichte einer Frau zeigen, die immer wieder zurückfällt in alte Verhaltensmuster der Anpassung, des Zurücksteckens, des Schweigens – und die sich dann doch ihre Unabhängigkeit zurückholt.“ Nicht zuletzt weil sie endlich aussprechen kann, wo die Wurzeln dieser Muster liegen. „Dass das Ganze so eine gute Geschichte geworden ist, wär‘ noch vor einem Jahr, als wir das erste Mal darüber gesprochen haben, undenkbar gewesen. Wir waren uns damals nicht so wichtig“, erzählt Kroetz.

„Wohin geht die Liebe, wenn sie geht?“, fragte Udo Jürgens auf seinem letzten Album. Erlebt man Marie Theres Relin und Franz Xaver Kroetz 16 Jahre nach ihrer Scheidung, kann man den Eindruck gewinnen, dass sie überhaupt nicht gegangen ist, sich stattdessen nur versteckt und verkleidet. Aber vielleicht ist ja auch das nur Autofiktion?

Petra Grond

Erschienen in Passauer Neue Presse am 13.10.2023